Pierre et Gilles – Vorschau Durchblick und Nachsicht


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Das Anliegen dieser Arbeit ist die Darstellung und Nachvollziehung der Arbeitsweise des Künstlerduos Pierre et Gilles und die aus der spezifischen Vorgehensweise der Künstler resultierenden Konsequenzen in bezug zu den von ihnen benützen Stilmitteln der Photographie und der Malerei. Die Schlüsse, die im Verlauf dieser Arbeit anhand der Analyse eines ausgewählten Werkes von Pierre et…

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Einleitung


Das Anliegen dieser Arbeit ist die Darstellung und Nachvollziehung der Arbeitsweise des Künstlerduos Pierre et Gilles und die aus der spezifischen Vorgehensweise der Künstler resultierenden Konsequenzen in bezug zu den von ihnen benützen Stilmitteln der Photographie und der Malerei.

Die Schlüsse, die im Verlauf dieser Arbeit anhand der Analyse eines ausgewählten Werkes von Pierre et Gilles gezogen werden können, sollen einerseits auf den Standpunkt des Betrachters angewandt werden und andererseits das von ihnen primär benützte Medium der Photographie kritisch hinterfragen.

Die Struktur dee Essays soll sich an der dreiteiligen plakativen Gliederung “Vorschau, Durchblick und Nachsicht“ orientieren, die das Ziel verfolgt die verschiedenen separaten “Arbeitsschritte“ von Pierre et Gilles anschaulich werden zu lassen.

Eine Besonderheit der Werke von Pierre et Gilles, die im Verlauf der gemeinsamen Zusammenarbeit ihre Initiale “P&G“ unverwechselbar als Markennamen etabliert haben, ist die eigentümliche Verschmelzung von Photographie und Malerei. Unter konsequenter Einhaltung dieser Vorgehensweise vom Beginn ihrer Kollaboration an, entstanden zahlreiche Portraits, Gruppenbildnisse und vereinzelt Stilleben. Ein wesentliches Merkmal ist die Farbigkeit und die perfekt inszenierte Komposition ihrer Bilder. Die “Vorschau“ soll die Auseinandersetzung von Pierre et Gilles‘ ausgewählten, kunstgeschichtlich relevanten, Vorläufern ansprechen, ihre Eingliederung in eine bereits bestehende Tradition verdeutlichen, die visuellen Grundlagen anhand derer sie sich orientieren und von denen sie beeinflußt wurden aufzeigen und zuletzt ästhetische Motivationen untersuchen. Unter dem Punkt “Durchblick“ sollen die Aspekte der Planung und gemeinsamen Durchführung der Werke angesprochen werden und diese als Endprodukte analysiert werden. Die abschließende Behandlung der “Nachsicht“ versucht auf die spezifische Problematik der Kombination der Medien Photographie und Malerei zu verweisen, Parallelen zu verwandten Genres aufzuzeigen und die Bedeutung der Werke von Pierre er Gilles in einem gesellschaftlichen Kontext herauszustellen. Die angewandten Zitate sollen sich in die Argumentationskette eingliedern, diese manifestieren, jedoch größtenteils nicht explizit kommentiert werden.

Traditionen und kunsthistorische Parallelen
Daß die Arbeit von Pierre et Gilles nicht mit dem Einlegen des Films beginnt und nicht mit der Retusche beendet wird, ist zunächst anhand eines einzelnen Bildes ihres Œuvres nicht leicht ersichtlich; daß es sich mit absoluter Sicherheit um Photos oder um photorealistisch anmutende Malerei handeln könnte, kann der Betrachter ebenso nicht auf den ersten Blick zweifelsfrei einschätzen.

Der Schwerpunkt von Pierre et Gilles‘ Arbeiten bilden Portraits, die zunächst lediglich eine äußerst bunte Darstellung einer Person oder einer Gruppe zeigen, umgeben von diversen Paraphernalien und meist inmitten einer äußerst opulenten Kulisse. Die Personen sind immer Mittelpunkt des Bildes: Der Titel nimmt speziell Bezug zu der sozialen Stellung oder erläutert präzise die dargestellten Rollen der Personen (wie etwa in den Bezeichnungen der Heiligenserien von 1989/90 und 1991) oder nennt den Namen des Modells. Die Portraitierten werden meist genau in die Bildmitte positioniert, oder sie blicken frontal in die Kamera, nehmen also direkten Kontakt mit dem Betrachter auf. In Pierre et Gilles‘ Bildern lassen sich unübersehbare Zitate und Parallelitäten zu einer visuellen Erzähltradition feststellen, die sich in kunstgeschichtlich relevanten “Meisterwerken“ etabliert hat. Daß Pierre et Gilles sich der Malerei entlehnten Bildcodes bedienen, läßt sich an jedem beliebigen Werk ihrer Arbeit nachvollziehen.
Als Beispiel soll das Bild “LE PETIT MENDIANT – Tomah“ (Abb. 1) dienen. Das farbige, hochrechteckige Werk von 1992 (in der Douglas B. Andrews Sammlung, Rom) mißt 125 x 107 cm und zeigt einen, im Schneidersitz hockenden, jugendlich anmutenden Bettler, der mit einem Lächeln dem Betrachter seine, aus dem Schatten tauchende, rechte Hand ausgestreckt entgegenhält. Mit der linken Hand hält er schützend ein struppiges Tier nahe an seinen, nur mit erdig-farbenen Stofffetzen bekleideten Körper, der abgesehen von seinem Gesicht, seinem rechten Fuß und der rechten Hand, fast ganz im Schatten liegt. Außer einer bräunlichen und zerschlissenen, aus grobtexturigem Material gefertigten Hose, die an einen Kartoffelsack erinnert und einem ebenso abgetragenen und löchrigen, langärmeligen Oberhemd, das mit seiner dunkelgrün schimmernden Oberfläche an ein metallisches Ritterhemd erinnert, besitzt der orientalisch aussehende, barfüßige, Jüngling lediglich seinen tierischen Begleiter, der zwischen seinen überkreuzten Beinen, unterhalb der horizontalen Mittelachse, im Bildzentrum plaziert ist und dem Betrachter, als eine unspezifizierbare Kreuzung zwischen Ratte und Terrier, direkt entgegenblickt. In seiner sitzenden Pose, lehnt sich der dunkelhäutige, lächelnde Bettler an eine ockerfarbene, verwahrloste Mauer, an der sich schon große Teile des Putzes abgelöst haben, mit geradem Rücken an. Eine fensterähnliche Öffnung in der Mauer, erstreckt sich, angeschnitten vom rechten und oberen Bildrand bis in die linke Bildhälfte hinein, eine Handbreit über dem Kopf des Jungen verlaufend. Unterhalb seiner offen ausgebreiteten rechten Hand, direkt neben dem Knie ist ein Kanalisationsdeckel zu erkennen, der vom linken Bildrand mittig abgeschnitten wird. Den unteren Bildrand bildet eine unscharfe Partie aus grauen Pflastersteinen, die mit zunehmendem Fokus den Blick in den Raum zur dargestellten Person führen und die ca. ein Viertel der Bildfläche als horizontal verlaufender Streifen bilden. Die Person ist in das absolute Bildzentrum gesetzt und wirft dem Betrachter einen freundlichen, offenen und mitleiderregenden Blick zu, wobei der Eindruck des Schmutzes auf der Haut noch zusätzlich durch die linke, verschattete Gesichtshälfte (aus der Perspektive des Dargestellten) verstärkt wird. Vom linken Bildrand fällt weiches Licht auf die Gestalt und erhellt deren rechte Gesichtspartie, die marode, gefleckte Wand hinter ihr sowie einen horizontal verlaufenden Bereich vor ihren Füßen. Bei der Darstellung dieses Bettlers klassifiziert man ihn, aufgrund des hyperrealistischen Ausdrucks, als eine Photographie, jedoch ist die Bildfläche von kleinen glitzernden Punkten gespickt, die alle wie Lichtreflexionen winziger Diamanten aussehen oder wie Sterne in einer vereinfachten bildlichen Darstellung des Kosmos. Man könnte vermuten, die Oberfläche der Wand sei lackiert oder benäßt, das Hemd habe Perlen eingenäht oder die zerfetzte Hose winzige Edelsteine zwischen ihren Löchern, aber bei intensiverer Betrachtung läßt sich feststellen, daß es ein Effekt ist, der auf die Oberfläche des Photos gemalt wurde. Diese unzähligen weißen Lichtpunkte sind bedingt durch ihren Kontrast zu der ansonsten kargen und ärmlichen Umgebung die eine verdreckte Seitenstraße oder ein Armenviertel sein könnte, aber auch durch ihre Plazierung, z.B. direkt auf den beiden Knien, widersprüchlich und so “unecht“ in ihrer Wirkung, daß man sie leicht als malerischen Effekt erkennen kann. Ebenso fällt auf, daß andere Bereiche des Bildes, z.B. das Fell des Tieres, die Textur der Wand oder das Gesicht des Bettlers, einen deutlichen Pinselduktus zeigen.

Das Bild “LE PETIT MENDIANT – Tomah“ ist nicht nur aufgrund seiner Bildthematik, sondern auch wegen des kompositorischen Aufbaus ein direktes Zitat von Bartolomé Esteban Murillos Gemälde “Trauben- und Melonenesser“ (Abb. 2) von 1645/46, das zwei Straßenjungen darstellt, die in einer nicht näher bestimmbaren Umgebung, auf dem Boden sitzend, genüßlich Trauben und Melonen essen. Pierre et Gilles lehnen nicht nur die Thematik, der sozial marginalisierten Gruppen, an Murillos Gemälde an, sondern scheinen sich bewußt an dem Malstil, der Farbigkeit und der Bildkomposition Murillos zu orientieren, dessen Mixtur aus rauhem Milieu und weichem, schimmerndem Licht bis ins 19. Jahrhundert als “Murillo“ ihre malerischen Nachahmer fand.

Pierre et Gilles ordnen sich also selbst in die Reihe ihrer Vorbilder ein, wobei sie nicht nur deren Stil analysieren und nachahmen, sondern sie stehen auch mit ihrer Lebensweise, z.B. den wiederholten Reisen nach Indien, Sri Lanka oder Tunesien, dem Skizzenanfertigen und der intensiven Vorbereitung auf ein Bild etc. in dieser kunstgeschichtlichen Tradition. „C‘est aussi à notre retour d‘Inde que nous avons entamé la série des saints: dans le sud du pays, on trouve toute une imagerie catholique, très jolie, très colorée, qui nous a donné le déclic.“ Man kann annehmen, daß sie sich selbst in in diesem Brauchtum sehen und gezielt die Vorläufer analysieren, anhand derer sie ihre Bilder fertigen. Die unzähligen Details und Bildcodes in Pierre et Gilles‘ Arbeiten lassen eine solche Deutung zu – ohne die intensive Beschäftigung mit den Vorläufern wäre die “perfekte“ Vermittlung solcher Archetypen, die trotzt ihrer Künstlichkeit und Stilisierung ihre Wirkung nicht verlieren, sondern eher noch steigern können, undenkbar. Mit den Darstellungen ihrer inszenierten Welten läßt sich eine explizit konservative, rückwärtsgerichtete Betrachtungsweise ablesen, da sie sich bei der Auswahl ihrer Bilsujets stets auf “sichere“ Motive beziehen. “Die Geschwader der unscharfen Gedanken stellen Knotenpunkte dar, die als Topoi ein rhetorisches Raster bilden, durch das die Werke betrachtet und miteinander verglichen werden können. Topoi sind unscharfe Denkfiguren – mit Leonardo gesprochen: Flecken an der Mauer einer Epoche, deren Unbestimmtheit die Künstler zu Kompositionen und Erzählungen inspiriert. Auf der wolkig rauschenden Redundanz einer mentalen Verfaßtheit entstehen die Lichter, Akzente und artikulierten Rhythmen einer künstlerischen Information. Es ist eben nicht so, daß der Maler vor einer weißen Leinwand steht, der Schriftsteller auf ein leeres Blatt Papier starrt.“ So wie die Mauer in “LE PETIT MENDIANT –Tomah“ mit ihren Flecken von der Komposition Murillos inspiriert ist, so kann man die Lichter und Akzente einer künstlerisch übermittelten Information ganz deutlich über das ganze Bild verstreut und zusätzlich im gesamten Œuvre Pierre et Gilles‘ wahrnehmen. Es dienen aber nicht nur kunstgeschichtlich (positiv) herausragende Werke als Inspirationsquelle – die Benützung von Pop- und Vulgärkultur, von “unkünstlerischen“ Vorlagen ist ein ebenso wichtiger ästhetischer Faktor, wie das Hinzuziehen barocker oder mittelalterlicher Bildchiffren.

Pierre et Gilles stehen insofern im Gegensatz zu Arnulf Rainer, der in seinen übermalten Büchern die original antiquarischen Vorlagen als Ansatz für seine Interpretationen wählte „[d]enn Rainer sucht im graphischen Werk eines Goya, in den Kopfstudien eines Leonardo, den Meskalingesichtern eines Henri Micheaux oder in den Skulpturen eines Franz Xaver Messerschmidt nicht das, was deren Kunst ausmacht, sondern zunächst nur seine Modelle. Die Vorlage wird zum bloßen Ausgangsmaterial. Stil, Form und Komposition zerstört er bereits durch das Herauslösen und Vergrößern spezieller Details. Daß die Werke der Künstlerkollegen ihn auch durch ihre Kraft oder Klarheit der Linie, Transparenz oder Glut der Farbe künstlerisch herausfordern können, spielt bei der Auswahl des Buchmaterials noch keine Rolle. Das zeigt die Tatsache, daß er sich zunächst mit der gleichen Leidenschaft dem unterschiedlichsten Ausgangsmaterial zuwendet, ungeachtet ob die von ihm gesuchten Gesichter bei Leonardo, Rembrandt, Goya, Fragonard, Blake, Holbein oder bei zu Recht vergessenen Karikaturisten zu finden sind, ob es um Gemälde, Skulpturen oder Zeichnungen handelt oder nur um wissenschaftliches Anschauungsmaterial […] oder um künstlerisch unbedeutende Beispiele […]“ wie auch bei diesem, aus rein wissenschaftlichem Interesse gewählten Zitat (Vgl. Abb. 6).

Der Bezug Pierre et Gilles‘ zu “unkünstlerischen“ Quellen ist eine Parallele zu ihrer anfänglichen Arbeit als Bilderproduzenten für Modejournale, Life-Style-Magazine oder ähnlich “trivialen“ Schriften, die Bedürfnisse der Konsumgesellschaft kreieren und bedienen. “LE PETIT MENDIANT – Tomah“ scheint sich aber nicht auf Motive aus der Pop- und Werbewelt zu beziehen, da die thematisierte Situation nicht als gewinnmaximierende Identifikationsfigur und als universeller Funktionsträger agieren kann. Das Motiv des Elends bzw. das Bedürfnis nach Simplifizierung und Authentifikation (das damit ausgedrückt wird) bezüglich der verwendeten Szenen und Personen zeichnet sich aber besonders in Werbekampagnen großer Luxus-Marken ab, die mit den Werbeplakaten nicht ein Produkt zeigen und verkaufen möchten, sondern auf Aufmerksamkeit und Imagebildung abzielen. Natürlich muß man sich bewußt machen, daß das Bild einer professionellen Auftragsarbeit für Werbekunden in nichts nachsteht: Die Person ist geschminkt, die Garderobe wurde speziell für das Bild entworfen (interessanterweise von dem Dargestellten selbst), die Ausleuchtung ist auf einem professionellen Niveau, die verwendete Kamera ist mindestens eine Mittelformatkamera, wenn nicht sogar eine Fachkamera etc., man kann den Luxuskonzernen sogar unterstellen, sie hätten sich an dieser belächelnder Person sogar Anreize für eigene Motive abgeschaut. Schließlich braucht der Mann außer seiner Mode im “Casual-Style“ nichts mehr um glücklich zu sein. Im Kontrast zu Rainers Vorgehensweise, scheint Pierre et Gilles nicht die materielle Präsenz der “Leitbilder“ zu interessieren, sondern deren pure Bildsprache sowie die Essenz der visuellen Embleme und Symbole. Die Intention, eine akkurate Wiedergabe der Grundmotive der Vorlagen zu erreichen, kann mit der Absicht einiger Maler aus der Gruppe der Surrealisten, z.B. Max Ernst oder André Breton, verglichen werden, eine universelle, von sprachlichen Konventionen abgetrennte, “Traumsprache“ zu finden, auf die möglichst viele Personen reagieren würden. „Pauschalisierend läßt sich sagen, daß Rainer im Sinne von Hegel sich nicht nur durch etwas Vorgefundenes aufgefordert fühlt, dieses zu gestalten, sondern auch in einem geradezu wörtlichen Sinn sich “darauf zu äußern“. Seine Kunst ist permanente Reaktion auf etwas Bestehendes: Reaktion auf Zeitströmungen, in denen sie entsteht, auf die Kunstgeschichte, an der Rainer sich eifersüchtig immer auf Neue mißt, auf Fragen der Ästhetik, des Schönen, dem er sich verweigert in der Gewissheit, daß diese Abwehrmechanismen zwangsläufig wie alle Dissonanzen immer wieder in Harmonien umschlagen, sich einpendeln auf das Gleichmaß; das liegt in den Gesetzmäßigkeiten von Energieabläufen.“ Dieses Sezieren der Kunstgeschichte nach persönlich relevanten Veteranen, das auch in einem individuellen künstlerischen Echo mündet, zeigt sich auch in dem Werk des belgischen Symbolisten Fernand Khnoppf, der sich der äußerlichen Dekadenz seiner Zeit zu entziehen versuchte und seine eigene entrückte Fluchtwelt konstruierte. Die Parallele zu Pierre et Gilles zeigt sich aber deutlicher in der technischen Ausführung Khnoppfs Werke, „[d]enn seine brügger Bilderzyklen hat Khnoppf stets von Schwarzweißpostkarten abgemalt, hat kühne Fragmente des Blicks aus seinem inneren Auge herausgeschnitten und eine unbelebte Vergangenheit zur Seelenlandschaft idealisiert.“ Im Kontrast zu der industriellen Entwicklung, den modernen technischen Revolutionen, scheinen sich auch Pierre et Gilles lieber kontemplativ in ihre persönliche Wunschwelt zurückzuziehen und die Aspekte des Fortschritts, zugunsten einer subjektiv “besseren“ Welt, auszublenden. Daß die Welt, in der der kleine Bettler lebt, ein bevorzugtes Universum sein soll, läßt sich nicht auf Anhieb beurteilen; aber die Tatsache, daß er leicht bekleidet ist, unbekümmert zu sein scheint, sich auch in seiner unpriviligierten Situation um das Tier kümmert und von glitzerndem Staub umgeben ist, läßt diese Szene um einiges “besser“ aussehen als eine vergleichbare an einem beliebigen Ort auf der Welt. Die triste “Realität“ wurde scheinbar nur auf ihre wesentlichen Merkmale reduziert und durch idealisierte Attribute komplementiert. Der „Ausdruck des Inneren des Fotografen – im Gegensatz oder zusätzlich zum Äußeren der Welt – [ist] fast seit den Anfängen des Mediums die Doxa der künstlerischen Fotografie und seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein fester Bestandteil der Fotografiekritik gewesen […].“ Somit finden sich wenige oder gar keine Attribute einer bestimmten Epoche in ihren Bildern wiedergegeben – dieses Purifizieren gibt den Arbeiten eine Vieldeutigkeit und Universalität, die sie in dem Zyklus der Kunstgeschichte Seite an Seite zu vorherigen “Meisterwerken“ als ebenbürtig erscheinen läßt.

Visuelle Chiffren und Bildmotive
So wie der Maler nicht vor einer ideell und physisch weißen Leinwand steht und lediglich aus sich selbst heraus autark schöpft, stehen Pierre et Gilles nicht vor einer solchen leeren Wand. Sie beziehen ihre Inspirationen aus bereits angewandten und bekannten Bildobjekten. Und in einem erweiterten Sinne, steht Gilles, der Maler, nicht vor einer leeren Wand, sondern stützt seine Arbeit auf die Photographien von Pierre, die er maßgeblich mitbestimmt hat. „Ich ähnle nur anderen Photos von mir, und das ins Unendliche: niemand ist je etwas anderes als die Kopie einer Kopie, sei es äusserlich oder innerlich […]“ Es scheint unumgänglich Kunst produzieren zu wollen, ohne bewußt oder unbewußt bereits bestehende Kunst zu zitieren. Selbst mit technisch revolutionären Medien, wie dem Computer, dem Photoapparat oder der Ölfarbe, wurden immer wieder etablierte Themen bearbeitet und sich an kunstgeschichtlichen Vorlagen gemessen. Im Prinzip entsprechen Pierre et Gilles einer alten Vorstellung, nämlich der wonach das Tun der Künstler primär Mimesis sein sollte. Entgegen der Bewegung der Kunst der Moderne, die eine Verlagerung von der Gegenständlichkeit hin zur Abstraktion vollführte, zeigen die Arbeiten von Pierre et Gilles keine solchen abstrahierenden Tendenzen. Sie halten sich präzise an die Vorgänger und eine “Kritik“ an deren Aussagen oder Ideologien läßt sich nicht ohne Weiteres feststellen – vielleicht allein in der subjektiven Selektion der Vorlagen, zeigt sich eine “Kritik“ an den eben nicht bevorzugten Arbeiten. Pierre et Gilles scheinen mit ihren nachgemachten Arbeiten nicht auf einen Mangel bei den Vorlagen hinweisen zu wollen – vielmehr zeigt sich eine Wertschätzung deren visuellen Ästhetik und die Tendenz zur Erhaltung und Kontinuität dieser Bildsprache. In einem erweiterten Sinn, könnte man sagen, Pierre et Gilles wollten die anderen Werke, die Vorlagen einer künstlerischen Reifeprüfung unterziehen: Durch das analytische Obduzieren wird die Bildsprache ihrer Vorbilder auf währende Gültigkeit geprüft. Ihre “Ersatzbilder“ sind keine Kennzeichnung der Beanstandung der Unvollkommenheit ihrer Vorlagen. Die Arbeit gleicht einem analytischen, fast schon empirischen Werkvergleich und kann als a posteriori bezeichnet werden, da keine unvoreingenommenen Reproduktionen hergestellt, sondern nach einer sorgfältigen, wenngleich auch sehr persönlichen Betrachtung, Bildmuster herausgearbeitet und betrachtet werden, aber anscheinend nicht unreflektiert gehandelt wird.

So kann man bei einem Vergleich von “LE PETIT MENDIANT – Tomah“ und den Traubenessern von Murillo zunächst einige Übereinstimmungen feststellen: Die Personen sind in beiden Bildern sehr plastisch durch das seitlich einfallende Licht modelliert, ebenso sind die Personen barfuß und in einer aufgeschlossenen, kommunikativen Phase (die beiden Jungs bei Murillo sind miteinander im Dialog, während der Bettler bei Pierre et Gilles direkt den Betrachter anschaut). Das Besondere ist aber die Raumsituation in beiden Bildern – es ist ein relativ genau definierter, nach Hinten abgeschlossener Raum, der weder markante Landschaften noch zeitlich definierte Attribute für eine Assoziation darbietet. Die Personen befinden sich vor einem homogenen, verschatteten Hintergrund, der vertikal hinter ihnen die Raumtiefe genau festlegt. der vordergründige, in das Bild führende Boden und die, bis zum oberen Bildrand reichende Wand ergeben eine Kulisse ähnlich der eines Theaters.

Man kann Pierre et Gilles unterstellen, sie wären sich der Tatsache bewußt, daß sie sich lediglich in den “Niederungen“ der Kunst bewegen und daß ihre Arbeit von einem großen Teil des Publikums als solche registriert wird. Wenn die Kunst Pierre et Gilles‘ als niedrigere Stufe rezipiert wird, als die Vorlagen, die sie nachmachen, kann man einwenden, daß die mimetische Kunst ohnehin die denkbar niedrigste Stufe der Realität darstelle. Das zeigt sich in dem platonischen Gedanken, der „[…] die drei Realitätsweisen eines Bettes festlegt; als Idee oder Form, als etwas, das ein Schreiner herstellt, und als etwas, was ein Maler darstellt, wobei letzterer den Schreiner nachahmt, der seinerseits die Form nachgeahmt hat. […] Da es möglich ist, etwas nachzuahmen, so wollte Platon sagen, ohne auch nur das Geringste über den Ursprung des Nachgeahmten zu wissen […], fehlt es den Künstlern an Wissen. Sie kennen nur die Erscheinung von Erscheinungen.“ Pierre et Gilles wissen schon im Voraus wie das Endprodukt schließlich aussehen soll – das ist insofern nicht weiter verwunderlich, da sie gezwungen sind ihre Arbeitsteilung so perfekt wie möglich aneinander anzupassen um das gewünschte Resultat erzielen zu können. Der Photograph muß wissen wie er die Statisten in Szene setzen muß, was noch noch in sein Arbeitsgebiet fällt und was dann später Aufgabe der Malerei sein wird. Das Endresultat muß also so genau wie möglich abgesprochen und abgestimmt werden, damit der Photograph dem Maler nicht etwas vorwegnimmt oder gar Bildteile für die Übermalung gänzlich unbrauchbar macht, die dieser mit malerischen Mitteln besser herausstellen könnte. Diese Vorgehensweise dürfte ihnen kein allzu großes Hindernis sein, da sie einerseits ihre Bildschöpfungen ganz konkret an bereist existierende Vorlagen und Topoi anlehnen, die schon in den Darstellungsvarianten der Kunstgeschichte wiederholt Verwendung fanden und da sie andererseits mit Bildmotiven aus der Alltags- und Populärkultur arbeiten, die vor allem auch im kollektiven Unbewußten manifestiert sind. Dadurch haben sie ihr Bild in Form einer bereits existierenden Darstellung präsent vor Augen und können sich konsequent auf eine adäquate Umsetzung konzentrieren. Die Tatsache, daß Pierre et Gilles einerseits die exakte Bildsprache ihrer Vorgängerbilder übernehmen und andererseits ihre eigenen Werke als Trivialitäten präsentieren und nicht als Kunst, kann auch als eine moderne Umsetzung des trompe l‘oeil aufgefaßt werden. Die Täuschung, die Bilder seien Color-Photographien und nicht größtenteils übermalte Schwarzweiß- Abzüge, führt ebenso in diese Richtung.

Planung, Nachbearbeitung und das Endprodukt
Da die Bilder von Pierre et Gilles ein Amalgam aus zwei verschiedenen Schichten darstellen, ist eine absolut genaue Abstimmung vor der Arbeitsaufnahme erforderlich, damit diese unterschiedlichen Portionen in dem Endresultat komplementär fusionieren können. Pierre ist derjenige der malt, „mais en même temps, lorsque nous faisons une image, le plus important, c‘est l‘envie que nous avons tous les deux de la faire ensemble: avoir envie de photographier quelqu‘un, en parler, faire des petits dessins, construire le décor, choisir la lumière, préparer les costumes […]“ Anliegen von Pierre et Gilles mag es sein, die Botschaft ihrer Bilderwelten möglichst überzeugend zu vermitteln, die Authentizität der fiktiven Welten zu erhalten und ihre eventuelle moralische Intention im Kontrast zu der dargestellten Unnatürlichkeit zu demonstrieren. Dabei wird die Schärfe, als traditionell etabliertes Signum richtiger bzw. authentischer Realitätsdarstellungen, in den Arbeiten von Pierre et Gilles konsequent angewandt, um in Kombination mit einer hyperrealen Plastizität und Detailgenauigkeit ein möglicherweise paradoxes Trugbild zu kreieren: Einerseits stellen die dargestellten Szenen irreale, traumartige und “unmögliche“ Zustände dar, andererseits aber stehen die Portraitierten mit ihren stoischen Haltungen derart verankert inmitten einer äußerst detaillierten und penibel inszenierten Kulisse, daß man deren Präsenz nicht als “vergeistigt“ oder gar als symbolisch bezeichnen kann. Im Gegenteil: Die Protagonisten konfrontieren den Betrachter sogar sehr direkt mit ihrer realen Körperlichkeit, mit ihrem Fleisch und Blut und mit ihren Körperflüssigkeiten. Obgleich die “Realität“ durch ein synthetisches Modell mit unwirklichen Wesen substituiert wird, mit denen der Betrachter sich aufgrund deren Abnormitäten (etwa wegen der geglätteten Hauttextur, den plakativen und unplastischen Hintergründen in denen sie agieren und den homosexuellen Konnotationen) nur mühsam identifizieren kann, können die Bilder in ihrem Endstadium dennoch mit einer glaubhaften Mixtur aus Inszenierung, lakonischer Leere und Unnatürlichkeit auf der einen Seite und exakter “Grundlagenforschung“, d.h. genaue Analyse der kopierten Vorlagen sowie Purifizierung auf essentielle, für den Betrachter erkennbare Bildcodes, auf der anderen Seite, überzeugen. „Les créations de Pierre et Gilles proposent surtout un monde de rêve et de beauté. Les deux artistes ont la volonté d‘idéaliser leurs modèles, de les rendre intemporels. Ainsi, les rides et autres petites “imperfection“ sont effacées pour magnifier en quelque sorte le modèle, le placer hors de l‘emprise du temps. Il devient comme une poupée de cire, à la peau farfaite, lisse et uniforme. Les retouches que Gilles apportent sont toujours réalisées par couches successives de peintures et glacis, jamais par l‘ordinateur.“ Diese Entwicklung, die sich bei Pierre et Gilles in dem Medium Photographie manifestiert hat, zeigt sich ebenso in der Filmindustrie, die die Tendenz entwickelt hat, immer häufiger Schauspieler durch simulierte Wesen und Landschaften durch computergenerierte Grafiken zu ersetzen. Ein Trend, der Hand in Hand mit den technischen Möglichkeiten des Kinos zu sehen sein sollte – Pierre et Gilles‘ Werke kann man jedoch als konservativ bezeichnen, da sie keinesfalls auf Photoshop-Filter zurückgreifen und auch sonstige digitale Zwischenschritte nicht zulassen. Es kann ihnen also bei ihren Bildern nicht nur um den reinen optischen Effekt gehen, den sie zweifelsfrei in einer vergleichbaren Weise, müheloser erreichen könnten, sondern es scheint auch ein Anliegen bezüglich der Einzigartigkeit und der damit verbundenen Authentizität des Bildes vorhanden zu sein. „Ironically, the sole means by which Pierre et Gilles could construct this hyper-modern world was by appropriating the most archaic themes and compositional devices they could find. Adding to this irony, especially in light of the argument offered above regarding the demands of new technology, is the fact that Pierre et Gilles employ no digital techniques to enchance their work. Each image, from its elaborately constructed set to its intricately detailed hand-painting, is produced through a lenghty and arduous process, which results in a unique, irreplaceable object.“ Man kann vermuten, daß diese subtile Dissonanz mit Berechnung in Szene gesetzt wird und nicht bloß ein Nebenprodukt in einer ansonsten raffiniert konstruierten Matrix darstellt. (Raffiniert kann hier auch im ursprünglich wörtlichen Sinne verstanden werden, da die Bildszenarien mitsamt den Darstellern, einer Vielzahl von Auswahlfiltern standhalten müssen, bevor sie endgültig “realisiert“ werden.) In gewissen Sinne, kann die Arbeit von Pierre et Gilles durchaus als eine Form von Naturalismus bezeichnet werden, da sie die verwendeten Medien verbirgt oder zumindest zu maskieren versucht und damit die Kunstfertigkeiten der Schöpfer, als Kunst tarnt. Der Schwerpunkt wird auf das stilisierte Produkt gelegt und nicht auf die Fähigkeiten der Künstler. „Vielmehr kann man […] behaupten, dass die Reinigung der Kunst von jedem Verweis auf eine physisch geleistete Arbeit, die im 20. Jahrhundert stattgefunden hat, den Künstler von der industriellen Arbeit radikal entfernt und die Kunst in die Nähe der Verwaltung, der Planung, der Führung – und schließlich in die Nähe des Konsums gerückt hat.“ Von der modernen Kunst wird dieser Prozeß weitergeführt und die Kunst wird benützt um die Aufmerksamkeit auf den Kunstcharakter zu lenken. In diesem Sinne lassen sich abermals “rückwärtsgerichtete“ Tendenzen bei Pierre et Gilles benennen: Nämlich in der Bescheidenheit in bezug zu dem Status ihrer Bilder und in der Verweigerung eines “künstlerischen“ Anspruchs für ihre Arbeiten, die sich nicht als “Hohe Kunst“ begreifen. Die Benützung “unkünstlerischer“ Objekte, wie Spielsachen, aus Plastik gefertigte Perücken, Kunstrasen oder bemalten Stoffhintergründen, trägt zu dem parodistischen Spiel mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen bei. Ein eindeutiges Beispiel zeigt sich in dem Bild “Nimal, 1986“ aus der Serie “NAUFRAGES“, in der eine Vielzahl von friedlich schlafenden jungen Männern gezeigt wird: Alle diese Personen, die nur als Portraits gezeigt werden, liegen mit geschlossenen Augen und benäßter Haut an einem angedeuteten Strand, der von angespültem Zivilisationsmüll, wie z.B. verbogenen Autoschildern, Plastikseilen, Weinkorken, Holzbrettern und einer Ausgabe der Zeitschrift “Flash Art“ bedeckt ist.

Als Blamage des Betrachters und gleichzeitig als Ironie der Künstler, entpuppt sich die Tatsache, daß der photographisch kompetente Betrachter zunächst von einer erstaunlichen Leistung “der beiden Photographen“ Pierre et Gilles ausgeht, die es in ihrer Art zu einem genialen “photographischen“ Resultat gebracht haben. Wenn jedoch erfahren wird, daß die Effekte der Bilder (speziell die Farbigkeit und Plastizität) im Prinzip nicht mit photographischen Mitteln erzeugt, sondern ganz banal durch Übermalung erzielt wurden, folgt der anfänglichen “Ent-Täuschung“ eine noch größere Wertschätzung der Bilder, da es noch komplizierter sein müßte eine “perfekte“ Synthese zwischen Photographie und Malerei zu schaffen, als lediglich ein “perfektes“ Photo oder ein “perfektes“ Gemälde, isoliert voneinander. Als Parallele dazu, kann die Honorierung des technisch versierten Kinopublikums betrachtet werden, die die meisterliche Leistung der Spezialeffekte nicht im Bestaunen des Unnatürlichen und Artifiziellen mehr sieht, sondern im Verbergen des Unwirklichen und im Kaschieren der eingesetzten technischen Hilfsmittel. Es gibt einen evidenten Dualismus in der Arbeit von Pierre et Gilles, der sich nicht nur auf den Status der Bilder beziehen läßt, sondern der sich ebenso in dem Gegensatz zwischen Schwarzweiß und Kolorierung konkret manifestiert. Parallel zum piktorialen Dualismus zwischen Linie/Zeichnung (dissegno) und Farbe, der sich an vielen “Meisterwerken“ der Kunstgeschichte nachweisen läßt, zieht sich der Dualismus des Monochromen und der nachträglichen Kolorierung durch das komplette Œuvre. Im Gegensatz zur kunsthistorisch diametral definierten Betrachtungsweise dieses Gegensatzes – nämlich in der Auffassung, die Linie stelle die Reinheit, das Klare und das Beständige dar, die Farbe aber spiegele lediglich den Schein, die Hülle und das Vergängliche wieder – scheint es bei Pierre et Gilles keine Apotheose des Schwarzweiß und keine Abwertung der Farbe zu geben. Dennoch sind Farbe und Bildsujet klar dualistisch voneinander getrennt, da der eine monochrome Photographien macht und der andere diese farbig übermalt. Diese Dualität ist aber insofern drastisch abgeschwächt, da Pierre et Gilles sich ihre Bilder genauestens überlegen und aus einem Fundus angesammelter Bildsujets auswählen, die ihnen als präzise Linien- und Farbvorlagen dienen und an die sie sich bei ihren re-Produktionen halten.

Bruch der Konventionen

Ein weiterer Aspekt des Dualismus, läßt sich an dem Gegensatz zwischen einem beliebigen Bild von Pierre et Gilles und dessen medialer Reproduktion aufzeigen. „On a dû refuser une offre de Michael Jackson que pourtant nous adorons. Il nous a appelé alors que nous séjournions à Sydney pour une exposition. Il voulait faire un livre avec nous, plus de 70 photos… Il pensait que nous les retouchions à l‘ordinateur. En fait, ça nous aurait bloqué pendant deux ans, c‘était impossible pour nous.“ Während das Originalbild von Pierre et Gilles ein absolutes Unikat darstellt, ist es in einer Vielzahl anderer Medien, wie z.B. Postkarten, Bettwäsche, Platten- und Zeitschriftencover etc. in das kollektive Bildgedächtnis eingeflossen. Der Konsument kennt es in erster Linie nur aus Massenproduktionen, die sich dieser Unikate bedienten. „The images, which employ time-honored photo-retouching techniques, are also easily reproducible. They‘ve been more widely seen in books, posters and postcards than in their original form – a situation which Pierre et Gilles heartily approve.“ Dieser Bruch mit der Autorität des “Kunstwerkes“ (nämlich mit dessen Status als absolutem Unikat, der Seriosität und des elitären Faktors des Werkes), wurde in der Kunstgeschichte schon mehrmals begangen, jedoch wird in diesem Fall ganz bewußt eine Arbeit sehr intensiv, mit manuellen und nicht technischen Mitteln zur Perfektion geführt und nicht etwa wie bei Marcel Duchamp nur eine Idee oder wie bei Andy Warhol die Voraussetzung der beliebigen Reproduktion miteinbezogen. Die Unterstellung, Pierre et Gilles begrüßten die Tatsache, daß ihre Bilder größtenteils als Postkarten oder Poster bekannt sind, läßt sich mit dem ebenfalls unterstellten Ziel begründen, sie wollten möglichst viele Leute mit ihren Bildern ansprechen. Damit nutzen sie die mediale Aufarbeitung zu ihren Gunsten um ihre “Botschaft“ via Zeitschriften, Werbeflyern oder CDs in die Wohnzimmer und auf die Computer dieser Welt zu hieven. Obwohl die aufwendige Retusche- Technik viel Zeit in Anspruch nimmt und das Endprodukt einzigartig ist, gliedern sich die Bilder wieder, in die durch die Kräfte der Populärkultur kolonisierte, mentale Bildtopographie ein. Ihre eigenen idealisierten und mit homoerotischen Komponenten versehenen Fluchtwelten, werden so in der prüden Bürgerwohnung konserviert. „Wir leben in einer Gesellschaft, die an visueller Information und Kommunikation um ein vielfaches entwickelter ist als die Zeiten der ersten Generation der Farbfotografie. Das gilt auch für die Werbung, die sich immer weiter verbreitet, indem sie immer das Neue, Fremde und Andere erheischt. […] In der visuell überfluteten Konsumgesellschaft gibt es kaum ein Bild, das wir, die großen Konsumenten der Bilder, noch nie gesehen hätten. Jedes Foto kommt uns bekannt vor, wenn nicht real, so doch mindestens virtuell. Bilder sind keine Wiedergaben der Realität mehr, sondern nur Bilder, die konsumiert werden, gleichgültig wer sie gesehen und fotografiert hat.“ Es ist nicht ausgeschlossen, daß die von Pierre et Gilles angefertigten Bilder dem Konsumenten im Original gar nicht bekannt sind und dieser dann bei einem nachträglichen Vergleich, seiner an Pierre et Gilles angelehnten Konsum- und Massenartikel, mit den Originalarbeiten, davon ausgehen könnte, daß die Künstler “ihre eigenen“ Bilder nachgemacht haben, da die Reproduktionen an Größe, Farbe, Beschnitt und Rasterung deutlich von den Originalarbeiten abweichen. „Während im Imitativen Realitäten und deren Erfahrung erarbeitet, aber auch verstellt und zugerichtet werden, werden sie in den Simulationen überlagert und teilweise zum Verschwinden gebracht. Das bedeutet, dass es nicht mehr nur darum gehen kann, in der Relation von Vor- und Nachbild eine Entscheidung für dieses oder jenes zu treffen. Wir haben uns damit auseinanderzusetzen, dass das Nachbild an die Stelle des Vorbildes tritt, d.h. dass es gar kein Vorbild mehr geben muß.“ Man kann davon ausgehen, daß sich die Bilder von Pierre et Gilles durch ihre mediale Massenverbreitung, mit ihrer imprägnierten homoerotischen Komponente und der konsequent eingesetzen Ikonographie, anstatt der historischen Vorbilder, in das allgemeine visuelle Bewußtsein einprägen werden. Womöglich erhalten sie, auch bedingt durch ihre weite Verbreitung ihre Autorität – da sie bereits als Teil der eigenen, westlich geprägten Kultur und eines vertrauten Bildkanons betrachtet werden, sind sie relativ unangreifbar. „Der Fotograf, der die Welt beobachtet und begutachtet, um seine persönliche Wahl unter den Aspekten dieser Welt zu treffen, agiert für die Gesellschaft als ein vorbildlicher Konsument. Seine Bilder sind in erster Linie Konsumvorbilder. […] Er unterwirft sich nicht unserem Geschmack, sondern er gestaltet diesen Geschmack.“ Pierre et Gilles gestalten sich ihre eigene perfekte Welt, mit eigenen selbstgewählten Prämissen und sind in dieser Hinsicht “Vorbilder“. „Er [der Künstler] will nicht länger ein Handwerker oder ein Arbeiter sein, der die Dinge produziert, die sich dem Blick der anderen bietet. Statt dessen ist er zum vorbildlichen Betrachter, Konsumenten, Verbraucher geworden, der die Dinge betrachtet, begutachtet und “aufnimmt“, die von anderen produziert werden. Demgemäß besteht die Funktion des Künstlers in unserer Gesellschaft nicht mehr darin, dem Geschmack anderer durch seine Kunstproduktion zu entsprechen. Vielmehr besteht diese Funktion jetzt darin, den Geschmack zu haben, zu formulieren und zu verändern. Der innovative Künstler ist heute nicht einer, der neue Dinge produziert, sondern einer, der bestimmt, immer schon bekannte Dinge ästhetisch reizvoll und interessant findet, die anderen vielleicht langweilig und uninteressant zu sein scheinen.“ Die Arbeiten von Pierre et Gilles sind eine Imitation von vorhandenen Bildsujets, in dem Sinne, daß sie ihre Vorbilder erarbeiten und subjektiv nachahmen – sie können aber gleichzeitig als Simulationen betrachtet werden: Als Gesamtkomplex präsentieren sie sich als simulierte Photographien, da das eigentlich Photographische an den Arbeiten, im Prinzip nur noch rudimentär und unter der Oberfläche vorhanden ist und von einer vorgetäuschten Photographie verdeckt wird, die augenscheinlich den Status eines echten Lichtbildes beim Betrachter einnimmt. „Die Fotografie will dann immer Kunst sein, wenn sie in der Praxis ihr Wesen und ihre historischen Funktionen in Frage stellt und deren kontingenten Charakter zutage treten läßt, wobei sie uns eher als Bilderproduzenten denn als Bilderkonsumenten anspricht.“ Es ist dem Betrachter zwar offensichtlich, die Arbeiten seien “echte“ Photographien, die echten Photographien, die Pierre als Zwischenstufe zum Endprodukt angefertigt hat, sind in ihren wesentlichen Zügen von Gilles überdeckt und manipuliert, so daß man beim Anblick des “selben“ Photos in der pre-simulativen, latenten Phase, also sozusagen in seiner Reinform, wohl nur noch wenige Gemeinsamkeiten zum übermalten und zusätzlich kolorierten Photo herausstellen könnte. Womöglich würde man es sogar als falsch belichtet und insgesamt als dilettantisch oder mangelhaft, also als “schlechte“ Photographie, bewerten. „If their rarefied status seems to belie the ease with which Pierre et Gilles‘ images lend themselves to reproduction in limitless formats and quantities, this contradiction can partly be explained by the artists deeply conflicted relationship to the pictorial tradition. Despite the easy availability of software and tolls to create compareable effects, Pierre et Gilles insist that the only way to reproduce their images is through the painstaking labor of craft. But this is a difficult position to have taken in the last quarter of the twentieth century, and their shared ambivalence concerning the restraints of tradition can be measured by the degree to which they load their work with irony and mixed messages.“ Bedingt durch die Tatsache, daß Pierre et Gilles aber nur ein finales Werk präsentieren, macht es wenig Sinn die unterschiedlichen Phasen voneinander zu separieren. Die Perzeption der Werke als eindeutige und echte Photographie, läßt sich auch an deren Abbildung als Reproduktionen nachvollziehen: Die übermalten Unikate werden wiederrum abphotographiert und verlieren als Repro-Photo ihre malerische Komponente. Das Malerische wird bei Pierre et Gilles ebenso geleugnet, wie es in einer photographischen Darstellung der “Mona Lisa“ geschieht, die dem Konsumenten nahezu ausschließlich als Photographie eines Gemäldes hinter Glas bekannt sein dürfte, das weder einen Größenbezug, eine Rahmenvorstellung oder museale Lichtsituation zu berücksichtigen vermag.

Gesellschaftlicher Kontext der Arbeiten
Im Kontrast zu der paradigmatischen Vorgehensweise eines Künstlers, der von der Idee, nämlich seiner Vorstellung von einem Gegenstand ausgeht und diese dann mittels repetitiver Nachbildung und Nachahmung mit einem vergleichbaren Objekt der “Natur“ anzupassen versucht, bis er eine befriedigende Kongruenz beider “Darstellungen“ feststellen kann, gehen Pierre et Gilles nicht von einer Idee des darzustellenden Gegenstandes aus, sondern wählen aus Vorlagen ihr bereits “fertiges“ Bild aus, das dann als “natürliche“, vollkommene und unanzweifelbare Realität dient. Es wird weder ein Erkenntniszuwachs erzielt, noch wird die materielle “Realität“ als verbesserungswürdige Schöpfung angesehen, die möglichst durch die Hand oder den Geist des Künstlers zu neuen Sphären gehoben werden soll. Die mimetischen Prämissen des vasarischen Künstlermodells werden außer Acht gelassen und das Vorbild der Wirklichkeit wird zugunsten einer bereits existierenden visuellen Folie aufgegeben. Wie die “Künstler“ ehedem Vögel durch gemalte Trauben täuschen wollten, versuchen Pierre et Gilles das Publikum mit parodierten Erwartungshaltungen in die Irre zu führen. Es wird nicht Wirklichkeit sondern Illusion angestrebt, Form soll nicht geschaffen, sondern nachgeahmt werden. Konträr zu einer postmodernen gesellschaftlichen Gesinnung, die vorgibt Wert auf Inhalt, Authentizität und Individualität zu legen, scheinen Pierre et Gilles mit einer Imitation zufrieden zu sein, die weder einen egozentrischen Echtheitsappell, noch einen heuchlerischen Aktualitätswahn zum Vorschein bringt. Die Einzigartigkeit einer Photographie, das Einfangen eines unwiederbringlichen Moments wird zunichte gemacht, dadurch daß Gilles immer wieder das Papier übermalen kann, zurück kann und so der ultimative Moment des Photographierens verloren geht. Der für die (analoge) Photographie sonst so kritische Faktor der Zeit und der absoluten Akkuratesse, wird durch die Tatsache entmachtet, daß Gilles beim Malen die eventuelle Unpräzision der photographischen Ausarbeitung mit malerischen Mitteln nachbessern könnte. Es gibt kein Zeitlimit. Das Attribut der Aktualität, das von der Photographie in der heutigen Zeit von der Masse ihrer Konsumenten gefordert und das ihr unterstellt wird, hat mit Pierre et Gilles‘ Werken nicht mehr viel zu tun – sie wirken zeitlos, ungebunden und unterliegen nicht dem Diktum der Spontanität, der Aktualität oder der egomanischen Seinsbejahung. Die Utopie besteht nicht in der Illusion eines perfekten Systems, sondern in der Enthemmung sozialer Normen. Mit der charakteristischen Verwendung von Photographie und Malerei in Pierre et Gilles‘ Werken, büßt außerdem das Medium der Photographie, das sonst auf eine dogmatische Autorität in der breiten Öffentlichkeit zählen kann, seinen Status als unbestechliches, distanziertes und gegenüber ideologischen Einflüssen resistentes Medium, ein. Der Photoapparat ist eine Maschine, die durch die nachträgliche manuelle Bearbeitung an Geltung und Prestige verliert. Als unangetastete Photographie gaukelt sie dem Betrachter vielleicht noch die scheinbare Verfügbarkeit der “eingefangenen“ Welt vor, aber als manipulatives Werk, als organische Synthese zwischen maschinellem “Diktat“ und manueller “Freiheit“, kann man diesem Surrogat der Realität, der Illusion von Präzision und unmittelbarer Erfahrung nicht mehr so einfach unterliegen.

Man könnte eine sehr humanistische Betrachtung der Arbeitsweise von Pierre et Gilles in Betracht ziehen, da Gilles stets derjenige zu sein scheint, der das entscheidende Tempo vorgibt. Er als Maler hat die Freiheit, den Vorzug vor der Maschine zu erhalten und seine handwerklichen Fähigkeiten in den Vordergrund und auf die oberste Schicht der Bilder zu stellen. Nicht der Mensch muß sich nach dem mechanisierten Tempo richten, sondern dadurch, daß die Photoapparatur sich nach menschlichen Aspekten, nämlich der Zeit, dem Schweiß und der Kritikfähigkeit des Malers etc., messen lassen muß, büßt sie ihren “Vorteil“ als schnelleres, genaueres, billigeres und moderneres Medium ein. „The image is more alive because it‘s part of this organic artisanal process.“ Die Fachkamera scheint kein privilegierteres Arbeitsmittel als der Pinsel oder der Spachtel zu sein. „Schon im neunzehnten Jahrhundert gab es eine Malerei nach der Photographie, das heißt Künstler [fertigten] eigene oder von fremder Hand hergestellte Photographien als eine Art Skizzen vor Ort, als Vorstudien oder gar als direkte Vorlagen für ihre Bilder. Die Photographie war in diesen Fällen lediglich Hilfsmittel, sie stand in der Nachfolge der Zeichenhilfen, wie camera obscura oder camera lucida. Zudem durfte ihr Gebrauch möglichst nicht bekannt werden. Zwar wußten die Maler, die sie so verwandten, meist voneinander, für die breite Öffentlichkeit galt die Photographie jedoch als unkünstlerische Technik.“
Die Wurzeln der Photographie werden aber bei Pierre et Gilles nicht geleugnet, sondern es wird gezielt ein Gesamtergebnis konzipiert, das sich der photographischen Elemente unter keinen Umständen entledigt. Die Arbeiten sind insofern mimetisch, da sie sich erstens durch ihre photographische Grundlage ohnehin als nachahmendes Medium bezeichnen können, und zweitens die vorhandenen Vorlagen exakt kopieren wollen. Sie wollen jedoch nicht die “Natur“ wiedergeben und dieser als äußeren Wirklichkeit nacheifern, sondern anscheinend eine innere Realität, eine kulturell etablierte Realität, die sich in Bildercodes und Motiven herauskristallisiert hat, nachspüren. „Das Reale erscheint also als Stolperstein im Kreislauf der lebenserhaltenden, nach Lust strebenden Triebe, der sich nicht wegretuschieren läßt und der sich hartnäckig wiederholt. Der Wiederholungszwang ist für Freud das Signum des Unassimilierbaren, Unbezähmbaren.“ Sie beziehen sich also nicht auf eine Form der Wirklichkeit, sondern scheinen in einer metaphysischen Bilderwelt Zuflucht zu suchen. Die bearbeiteten Vorlagen sollen dabei aber keineswegs übertroffen werden, sondern stellen lediglich ästhetische Anhaltspunkte einer ideellen und nicht zuletzt ironischen Betrachtung dar. Das “Reale“, die graue Wirklichkeit und die Unansehnlichkeiten ihrer Gesellschaft, werden von Pierre und Gilles konsequent als bildwürdige Elemente gemieden und stattdessen immer wieder durch eine künstlich erzeugte Wunschwelt ersetzt. Diese Stringenz zieht sich durch Arbeiten und kann demnach im Einklang mit Freud als Zeichen für das Unanpassbare, Undomestizierbare gedeutet werden, das wiederrum als Indiz für ihre Homosexualität angesehen werden könnte.

Die Darstellung der Szene in “LE PETIT MENDIANT – Tomah“ kann als eine ironische Parallelität zu einer verklärten gesellschaftlichen Haltung interpretiert werden, in der selbst die menschenunwürdigsten Konstellationen noch als idealisierter Pseudozustand in den Augen der westlich geprägten Welt angesehen werden. So verhält es sich mit dem Orientbild des Abendlandes, das meist ohne Berücksichtigung der miserablen sozialen Zustände und des von einem durch die Modalitäten des “westlichen“ Kapitalismus verschuldeten Elends, dennoch stets in einer beschönigenden Weise zum Vorschein gebracht wird. Es zeigt sich eine desavouierende Haltung in dem Bild, die auf die Schein- und Repräsentationsbessenheit der westlichen Attitüde abzielt, die sich in Verblendung bzw. Selbstsucht verliert und zur Kritik unfähig bleibt. Die Diskrepanz in den Denkauffassungen der “zivilisierten“ Welt, die einen tiefen Graben zwischen sehnsuchtsvollem Streben nach Ursprünglichkeit oder Authentizität auf der einen Seite und illusorischer Selbsthypnose mit dem Ziel der “Scheinheiligkeit“ und der Geltungsmanie auf der anderen Seite, gerissen haben, könnte man auch in der Arbeit von Pierre et Gilles herauslesen: Obwohl die dargestellte Szene von der erdig-farbenen Kolorierung, die an Schmutz und Gülle erinnert und von Attributen des Verfalls dominiert ist, überzieht ein dichtes, glitzerndes Netzt von kleinen schimmernden Lichtreflexionen die Oberfläche des Bildes. Eine westlich-manipulierte Scheinwelt, die sich im wahrsten Sinne des Wortes an ihrer Oberfläche erkennen lassen kann.

Obwohl der Bettler in Fetzen gekleidet ist und kein persönlicher materieller Besitz in seiner Nähe zu erkennen ist, scheint er sich seinen Stolz und seinen Selbstrespekt bewahrt zu haben – es zeigt sich in seiner Handgeste keine aggressive oder gar eine fordernde Haltung, mit den Ziel Geld zu erbetteln. Lediglich die von Touristen in ihren Reisen als negativ “erlernte“ Haltung, läßt den Betrachter sofort vermuten, es handele sich um eine unmißverständliche Geldforderung. Es kann aber im Gegensatz zu einer, aufgrund der Ideologien des Betrachters, unterstellten, rein finanziell- orientierten Haltung, auch eine freundliche Aufforderung sein, Platz zu nehmen und sich zu ihm zu gesellen, eine Einladung zur Kommunikation. Ein anonymer Mensch, der nicht etwas haben will, sondern etwas geben möchte. Mit dieser Sichtweise ändert sich sich die vom Bildtitel “LE PETIT MENDIANT – Tomah“ zunächst in die Irre geführte Anschauung, es handele sich um einen kleinen Bettler. Jedoch kann sich der Eindruck eines kleinen, oder jugendlichen Bettlers nicht lange halten. „Die Direktiven, die der Betrachter von Bildern in den illustrierten Zeitschriften durch die BEschriftung erhält, werden bald darauf noch präziser und gebieterischer im Film, wo die Auffassung von jedem einzelnen Bild durch die Folge aller vorangegangener vorgeschrieben erscheint.“ Die vom Titel unterstellte kindliche Naivität kann nicht lange überzeugen, da die dargestellte Person aufgrund ihrer Hände und Füße und nicht zuletzt den Gesichtszügen auf ungefähr 25 bis 30 Jahre alt zu schätzen ist. Die Konnotation des orientalischen Bettlers muß auch zugunsten einer alternativen, befriedigenderen Deutung aufgegeben werden. So kann die Szene nicht, in einer zuvor romantisierend im fernen Osten angesiedelten Umgebung spielen, sondern muß in einer industriell entwickelten Gegend beheimatet sein. Die Gullideckel und der Putz an der massiven Wand zeugen zumindest davon. der “junge“ Mann kann also direkt hinter einem beliebigen Bahnhof einer “westlichen“ Stadt sitzen. Die zuvor geleugnete Misere ist näher gerückt. Kann man hier eine Sozialkritik herauslesen, die eine von der “entwickelten“ Welt artikulierte Überheblichkeit und Herabwürdigung der arabischen Welt und der sogenannten “Dritten Welt“ anspricht? Daß Pierre et Gilles den Betrachterstandpunkt aber nicht in einer überhöhten Position angesiedelt haben, sondern sich auf Augenhöhe mit dem Mann treffen, macht das Bild nur noch irrealer, da die wenigsten Leute sitzende Bettler aus einer solchen Perspektive kennen. Ist es eine vorgetäuschte Freundlichkeit um dem Touristen seine Dollars aus der Tasche zu ziehen, oder meint der Mann sein Lächeln etwa ernst? Die normierte Geste der offenen Hand gibt ein trügerisches Bild ab, das die Szene in einem Schwebezustand hinterläßt. Die Situation scheint undefinierbar zu sein, da man mit seiner sonst bestens anwendbaren “Menschenkenntnis“ in diesem Fall nicht mehr weit kommt. Interessant ist auch, daß die Kleidung der Person mit der Textur des Hintergrundes zu verschwimmen droht, was sich auf die Bereitschaft der Einwanderer zur Assimilation in einem neuen und fremden Land beziehen lassen könnte. Die Kultur der Fremden wird von den “Gastgebern“ als unsauberes, abstoßendes und unverständliches Gefüge angesehen und gefordert, diese mit der eigenen, äußerlich zwar funkelnden aber innerlich maroden, im Zerfall befindlichen kulturellen Identität zu ersetzen. Und wäre der Betrachter nicht gänzlich verwirrt und überfordert, wenn der Mann zwar in Armut und Besitzlosigkeit lebte, er diese Umstände aber ganz und gar befürworte und möglicherweise selbst ausgewählt hätte? Etwa als ein, im Meditationssitz verharrender, buddhistischer Mönch, der sich von den Bindungen und Normen eines weltlichen, nach Macht und materiellem Status strebenden Systems losgelöst hat und soeben in seiner Kontemplation gestört wurde. Als symbolische Geste der Künstler kann auch der Schnittpunkt zwischen dem Betrachter und der dargestellten Person gesehen werden: Die Schärfenebene verläuft mit dem seitlich einfallenden Licht horizontal vor den Füßen der Person und schafft so eine Trennungslinie, die den Effekt eines real einschätzbaren, räumlichen Abstandes zu der Person vermittelt. Weder das Gesicht noch die Hand sind “richtig“ fokussiert oder auch aufgrund der Abblendung gezielt unscharf gelassen worden. „[D]er Orient, den man sich als Ursprung denkt, als schwindeligen Punkt, an dem Heimweh und die Versprechen auf Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, jedoch unendlich unzugänglich bleibt, denn er bleibt stets die Grenze. Er bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muß, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt. Die Geschichte dieser großen Trennung während der Entwicklung des Abendlandes müssen wir schreiben und in ihrer Kontinuität und in ihrem Wechsel verfolgen; zugleich müssen wir sie aber auch in ihrer tragischen Versteinerung erscheinen lassen.“ Die Angesprochene Versteinerung dieser Geschichte kann in der Darstellung der maroden, sich zersetzenden Wand und den rauhen Pflastersteinen beobachtet werden. Mit dem sichtbaren Bild und der dazu gelieferten Unterschrift, bleibt es dem Publikum auf der einen Seite überlassen, diese als “schön“ und “gut gemacht“ zu akzeptieren oder auf der anderen Seite dem Dechiffrieren eines verhüllten Symbolismus nachzugehen oder die verschlüsselten Sinnzeichen in den Bilderwelten ausfindig zu machen. Die Beschäftigung mit marginalisierten Gruppen und Ideologien, so wie sie in “LE PETIT MENDIANT – Tomah“ thematisiert werden, läßt sich zum Beispiel anhand einiger Werke die Ende der 1980er Jahre bis Anfang der 1990er Jahre entstanden sind zeigen: “LE MILITAIRE – Jean Marie, 1985“, “SARASVATI – Ruth, 1988“ (Abb. 3), “LE PETIT COMMUNISTE – Christophe, 1990“, “LE PETIT CHINOIS – Tomah, 1991“, “LE TRIANGLE ROSE – Laurent, 1993“. Das Interesse an religiösen Bildmotiven und säkularen Ideologien kann im Kontext zu Pierre et Gilles‘ eigener Positionierung am Rande der gesellschaftlich ausgeübten sexuellen Präferenzen gedeutet werden.

Die Arbeiten stellen mit ihrer Vulgarität und der “kitschigen“ Bildästhetik außerdem in Frage, was in einem ethischen Sinne als gut betrachtet werden kann, was für die materielle Welt oder die Existenz hilfreich sein kann. Die gesellschaftlich normierte Konzeption des Utilitarismus, der Brauchbarkeit und “Sinnigkeit“ wird von Pierre et Gilles noch radikaler in Frage gestellt, als es “Hohe Kunst“ auf einem niedrigeren und plakativerem Niveau eh schon tut. Man könnte vermuten, daß die von Pierre et Gilles artikulierte Geisteshaltung ein Hinweis auf ihr Selbstverständnis als Homosexuelle ist; Schließlich ist es ihnen aufgrund ihrer sexuellen Ausprägung fremd, leibliche und für die Gesellschaft sinnvolle bzw. nützliche Nachkommen zu produzieren. Womöglich läßt sich ein “Unnütz-sein“ herauslesen, das die “Sinnbejahung“ und Sinnsuche der Gesellschaft radikal konterkariert. „Nos images nous ressemblent, c‘est notre vie, nos rencontres, nos amitiés, nos amours et nos rêves.“ Pierre et Gilles nutzen die Ästhetik des Kitsches und der Trivialität als Zeichen für einen ethischen bzw. moralischen Nihilismus. „Das ist das genaue Gegenteil der Frage nach dem Wahrheitsgehalt, es ist die nach der Ästhetik der Form.“ Zwischen den subversiv übermittelten, gesellschafts- und normbezogenen Zweifeln ragen jedoch keine offensiven, didaktischen Moralpredigten hervor – dennoch wird die Opulenz der malerischen Pracht von einem Zeichensystem kritischer Satire unterwandert.

Ein weiterer Widerspruch zeigt sich in der Forderung, absolut fiktive Welten zu kreieren aber anscheinend gleichzeitig einen absoluten Realitätsanspruch durchsetzen zu wollen. „We like for the model to be in the middle of the set. There are more surprises, like in theater. It takes longer but it‘s more real for us.“ Nichts in den Bildern deutet auf Zufälligkeit hin, oder zeigt einen Zustand, der sich nach den Gesetzen der dargestellten Welt so hätte ergeben können – alles ist so gewollt, wie es zu sehen ist. Diese Darstellung absolut perfekter und schöner Welten soll der Maßstab für die Entscheidungen des Betrachters werden, der mit dieser, von jeglichem Leid und Häßlichkeit entledigten Wunschwelt, konfrontiert wird. „Kant argues that it is through persection of the sublime that we gain an intimation of divinity, of transcendence. But this apprehension is won through the renunciation of our comprehension and control of the world. There can be no boundary of the sublime, and in this knowledge we recognize the transient nature of all boundaries, including the boundary between the self and the other. The sublime is thus a disturbing category, for in its promise of form without limit it shatters the form/matter duality and reminds us of the social nature of all categories and boundaries.“ Die wiederholte Thematisierung von zahlreichen (indogermanischen) Göttern und christlichen Heiligenfiguren in den Werken von Pierre et Gilles (vgl. Abb. 3 und Abb. 5) in Kombination mit banalen und alltäglichen Gegenständen, könnte man nach Kant auf die intentionierte Sensibilisierung des Betrachters durch den Künstler zurückführen, der nach einer Auseinandersetzung mit dem Göttlichen die Unbeständigkeit sozialer sowie persönlicher Grenzen zu erkennen vermag. Sollte der Betrachter durch diese Gegenüberstellung erschrecken und infolgedessen ein Einsehen in die selbstauferlegten Normen haben, so könne er von seinem indoktrinierten Normverständnis Abstand nehmen. „Das sind die beiden Wege der Photographie. Ich habe die Wahl, ihr Schauspiel dem zivilisierten Code der perfekten Trugbilder zu unterwerfen oder aber mich in ihr dem Erwachen der unbeugsamen Realität zu stellen.“
Intimität, Trivialität und Kitsch
Man kann den Aspekt Intimität und der Annäherung recht deutlich wahrnehmen: Auf der einen Seite ist es eine intentionierte Nähe zu den historischen Vorlagen, auf der anderen Seite veranlassen die Arbeiten, aufgrund ihrer Bildästhetik, den Betrachter, diese abzuwerten und auf ein niedriges Niveau herabzustufen, so daß es ihm dann als Konsequenz der “Unter-Schätzung“ zu einem Status eines Alltagsgegenstandes vergleichsweise leicht fallen muß, einen direkteren Zugang zu diesem zu finden, als zu einer “höheren Kunst“. „For most modern people, mythological subject matter is completely lost. So they have very few grounds upon which they can respond. I suppose people can have a very visceral response to a Gothic cathedral or the sistine ceiling. But to proceed from that to a deeper understanding of technique, of the intellect behind the work of art, is for the most part learned. So awe is a more general response, but to really have the object hold for long periods of time, that‘s more a learned thing.“ Das vorherrschende Miß/-Unverständnis bei der Auseinandersetzung mit “Hoher Kunst“, daß man einerseits auf eine Unkenntnis der benützten Symbole und generell auf die elitäre Stigmatisierung der “Kunst“ in der Perzeption der Bevölkerung zurückführen mag, scheint bei der Beschäftigung mit Pierre et Gilles‘ Werken keine Rolle zu spielen. „Je mehr eine Sammlung dem öffentlichen Raum und den alltäglichen Lebens- und Arbeitsumständen ausgesetzt ist, desto mehr wird dagegen nach Bildern verlangt, die ihre Zugehörigkeit der künstlerischen Tradition für jeden Betrachter unmittelbar und kontextunabhängig bezeugen.“ Dadurch, daß die Arbeiten an der Oberfläche bleiben (können), überfordern sie den Betrachter nicht und geben ihm so ein Gefühl der Sicherheit und der Kontrolle: durch diese Abwertung auf ein ungefährliches, triviales Niveau, verkommen die Arbeiten in den Augen des Betrachtenden zu banalen Alltagsgegenständen. Die Hemmschwelle, die sonst bei einer Betrachtung von “Kunstwerken höheren Ranges“ dominant ist, scheint abgebaut zu sein und die Distanz zwischen Kunst und Konsument verringert sich durch das Auflösen der Unterscheidung von Niedriger und Höherer Kunst. „Künstler arbeiten mit Fehlleistungen, um sich etwas nutzbar zu machen, was sich rationaler Kontrolle entzieht, und um die Mechanismen des psychischen Apparates vorzuführen.“ Dieser gezielt eingesetzte Fehler, den man mit dem Stilmittel des Kitsch benennen könnte, mag das Publikum dazu veranlassen, sich seiner psychischen bzw. ideellen Sektiererei bewußt zu machen. Der Zynismus bzw. der Aspekt der Parodie von gesellschaftlichen Scheinwelten, Meinungen, Sichtweisen und Bildern, in den Arbeiten von Pierre et Gilles zeigt sich aber dann, wenn der Effekt der ästhetischen Sensation und Überflutung sich allmählich in ein Gefühl der Leere und des Zweifels wandelt. Zwar wurden Bilder bis ca. 1400 v. Chr. durchaus verehrt, jedoch nicht als ästhetische Werke definiert und bewundert. Die Gegebenheit, daß sich die Bilder von Pierre et Gilles teilweise auf vulgäre Bildmotive beziehen, läßt womöglich den Schluß zu, daß die Künstler bei der Anfertigung der Bilder keinen besonderen Wert auf den zukünftigen Status dieser Werke legten. Der zukünftige Status der Bilder als Kitsch wird jedoch nicht nur berechnend in Kauf genommen, sondern auch bewußt eingesetzt um den Betrachter zu “bewegen“. „The feelings excited by improper art are kinetic, desire or loathing. Desire urges us to possess, to go to something; loathing urges us to abandon, to go from something. The arts which excite them, pornographical or didactic, are therefore improper arts. The aesthetic emotion […] is therefore static. The mind is arrested and raised above desire and loathing.“ Die Scheu, die das Publikum vor einem Kunstwerk hat wird minimiert und durch die Abscheu bzw. Herabwürdigung kann ein Loslösen von fixierten Auffassungen erzielt werden.

Die Bedeutung der Arbeiten von Pierre et Gilles zeigt sich nicht in der präzisen, technisch ausgereiften Annäherung and die Originale, sondern in der Kontextualisierung und Positionierung der eigenen Werke in das heutige “sozio-kulturelle“ Milieu. Die vorgenommene Dekonstruktion der Grenze zwischen Hoher und Niedriger Kunst färbt auch auf andere Fragestellungen des Betrachters ab und läßt ihn andere Normvorgaben, etwa gesellschaftliche Aspekte, hinterfragen. Die Werke zeigen nicht nur ein ironisches Verhältnis zu den konstruierten Welten und den darin etablierten Rollenverteilungen, sondern sie belegen auch einen ironischen Selbstbezug. Die dargestellten Figuren in den Werken von Pierre et Gilles scheinen in ihrer Abgeschiedenheit sehr Buddha-Statuen zu gleichen, die den Erwachten mit einem seligen, selbstironischen Lächeln portraitieren. Wenn man sich im folgenden Zitat zusätzlich zu Schweik und Buddha noch Pierre et Gilles dazudenkt, sagt dieser Text sehr viel über die Strategie der Künstler aus. „Their smartness is a kind of defiant dumbness in the face of the world, or their seeming dumbness about life is a kind of wisdom about it. What is important […] is that this peculiar mix of dumbness and cunning, evolved by Schweik and the Buddha in a hit-or-miss way in response to a world not of their making and liking, a dumb world in which they found themselves dumbly thrown, is a strategy of survival, a kind of self-reliance and self-help: a way of making emotional ends meet in oppressive, impossible, ungratifying circumstances. […] Schweik and the Buddha were artful dodgers, as it were – experts in adaptive defense: artists at outsmarting reality, at avoiding the subtly feelings of victimization and futility it sooner or later arouses in one.“ Man kann Pierre et Gilles unterstellen, daß sie mit der Benützung des “Kitsch-Faktors“ in ihren Arbeiten eine konservative, schützende Haltung einnehmen wollen, die sie in dieser unangreifbaren, trivialen Position von Kritik seitens des Kunstmarktes verschont.

Intimität zeigt sich auch an den relativ kleinen Maßen der Originalarbeiten, die obwohl sie größtenteils sicherlich mit einer Fachkamera entstanden sind und durchaus ohne Qualitätseinbußen auf ein Format von einigen Metern Höhe und Breite vergrößert werden könnten, trotzdem nie die Ausmaße eines größeren Tafelbildes erreichen. Die Größe der Werke, die zu Beginn ihrer Zusammenarbeit entstanden (1976 bis ca. Anfang der 1980er Jahre) orientierten sich noch an den Seitendimensionen der Modezeitschriften, für die auch einige als Auftragsarbeiten angefertigt wurden, nur allmählich begannen Pierre et Gilles auch Bilder mit Maßen von über einem Meter herzustellen, die aber immer noch eine Seltenheit in ihrem Œuvre ausmachen. Diese “Greifbarkeit“ ermöglicht es dem Publikum ein engeres Verhältnis zu den Originalbildern aufzubauen, als zum Beispiel bei großformatigen Drucken dies möglich wäre. Daß Pierre et Gilles einen speziellen Rahmen für jedes Unikat aussuchen, trägt sicherlich zu einer gesteigerten Sympathie und Zuneigung seitens des Publikums bei. “There‘s a sensuality to the process of making the pictures, from the beginning to the end. From thinking of the idea, taking the picture, the whole process, even up until the framing.“ Der Aspekt des Rahmens kann aber auch direkt in den Bildern selbst beobachtet werden: Viele Portraits spielen mit einem artifiziellen Kranz aus Rosen, Lichtern, der sich um den Kopf oder die Körperkontur der Dargestellten anordnet. Ganz deutlich und markant kann man diesen Effekt in den Bildern “LE TORÉADOR – Mario. 1985“, “MARIE–ANTOINETTE – Diane Brill. 1989“, “SARASVATI – Ruth. 1988“ (Abb. 3), “LE PETIT COMUNISTE – Christophe. 1990“ etc., sowie in der Serie der weinenden Frauen in “PLEUREUSE“ jeweils von 1986. Diese Tendenz, einen Rahmen im Rahmen zu zeigen, findet sich auch in den Bildern, die direkt entlang der Bildkanten eine verschwommene Abgrenzung aus ornamentalen Bauten benutzen. Die schöne und intakte Welt wird mit dem Rahmen betont, von der schmutzigen, kontaminierten Außenwelt des Betrachters abgegrenzt aber auch in ihrem “überbordenden“, teilweise frivolen Verhalten gezähmt und “im Rahmen“ gehalten. „Whereas the sentiment of beauty is predicated on a sense of the harmony between man and nature and the rationality and intelligibility of the world, the sublime is conceived of as a mixture of pleasure, pain and terror that forces us to recognize the limits of reason. Kant spezifies this relationship in terms of framing: the beautiful is characterized by the finitude of its formal contours, as a unity contained, limited, by its boders. The sublime on the contrary, is presented in terms of exess, of the infinite: it cannot be framed and is therefore almost beyond presentaion (in a quite literal sense, then, obscene).“
Die geminderte Distanz des Betrachters zu den Bildkreationen Pierre et Gilles‘, könnte auch daran liegen, daß durch die nach längerem Betrachten, sichtbare körperliche Arbeit der Künstler, die diese an den Originalbildern hinerlassen haben, eine Einsicht in die Entstehungsweise der Werke ermöglicht wird und diese infolge dessen stärker honoriert werden. „Die traditionelle Malerei entsteht nämlich als Resultat einer körperlichen Arbeit des Malers. Und jedes individuelle Gemälde trägt gleichermaßen die Spuren dieser körperlichen Arbeit. Daraus entsteht der Effekt einer intimen Verbindung zwischen Autor und Werk. Das einzelne Gemälde weist materielle, körperliche Besonderheiten auf, die als direkte Erweiterung des Körpers, als unreduzierbare und unkontrollierbare Handschrift des Malers erkennbar sind – oder zumindest entsprechend dem Ethos der Malerei als erkennbar vorausgesetzt werden. In diesem Sinne ist man berechtigt zu sagen […], das insbesondere im Zeitalter der maschinellen Produktion, die die Individualität des industriellen Arbeiters im fertigen Produkt auslöscht und damit seine Arbeit “entfremdet“, allein die Kunst im Stande ist, diese Entfremdung zu überwinden und die Individualität des Produzenten in seinem Werk gelten zu lassen. Daraus entsteht der Eindruck, das der Künstler als derjenige, der ausnahmsweise eine nicht entfremdete Arbeit leistet, sich in unserer Zivilisation in einer privilegierten Lage befindet.“ Es ist interessant, daß Pierre et Gilles mit ihren handgemachten Arbeiten im Prinzip industriell gefertigte Vorlagen kopieren aber gleichzeitig zu einer industriellen Reproduktion ihrer Bilder motivieren. So werden etwa zig-tausendfach reproduzierte religiöse Gebetskarten, oder Bravo-Aufkleber gezielt in Pierre et Gilles‘ eigene Bildsprache umgesetzt und mit einem unglaublichen Aufwand kopiert. Es sei aber angemerkt, daß der Pinselduktus zu Beginn ihrer Zusammenarbeit noch sehr viel deutlicher zu erkennen war, indem z.B. die Köpfe mancher Portraitierten mit lockeren Pinselstrichen ummalt wurden oder man unzweifelhaft einen plakativ gemalten Hintergrund erkennen konnte. (z.B. “MICK JAGGER. 1977“, “DJEMILA. 1978“, “CHRSITOPH. 1981“ und in der Serie “LES ENFANTS DES VOYAGES – Sri Lanka. 1982“ etc.). Im Verlauf der Zusammenarbeit “komplettierten“ sich jedoch der Photograph Pierre und der Maler Gilles so perfekt, daß es in den neueren Arbeiten, wie z.B. in den Heiligenserien (vgl. Abb. 5) oder den Plaisirs de la Fôret (vgl. Abb. 4) fast unmöglich für den Betrachter ist, zwischen den Medien Photographie und Malerei zu differenzieren. Die Serien wirken formalisiert, technisiert und entpersönlicht, da nahezu alle Spuren der körperlichen Präsenz der Künstler in den Werken getilgt wurden. Allein die in den Bildern dargestellte Körperlichkeit und die Art, wie diese dargeboten wird, zeigt eine körperliche Präsenz. Insofern gleichen sie einem Resultat, daß den industriell angefertigten Produkten durchaus ähneln soll. Man kann vermuten, daß die langsame Homogenisierung der Werke hin zu einem Amalgam aus den zwei Medien Malerei und Photographie, eine intentionierte Entwicklung darstellt, mit der Pierre et Gilles womöglich auf der einen Seite eine symbolische Gleichstellung zwischen dem Künstler und dem “industriellen“ Arbeiter erreichen wollten und auf der anderen Seite einen realen Konsens zwischen dem Photographen Pierre und dem Maler Gilles. Unter Umständen läßt sich ein symbolischer Akt, der die Homosexualität als gleichberechtigte Stellung in der Gesellschaft einfordert, ablesen. „Ce livre qui vient de paraître, c‘est comme un album de famille pour nous parce que notre travail et notre vie se mélangent complètement.“ Im Gegensatz zu der Systematik der Photographie, die auf einem Fundament der Neutralität und Distanz aufgebaut wurde, zeugen die Arbeiten durchaus von der Persönlichkeit der Künstler – nicht zuletzt wegen der intimen Verbundenheit der dargestellten Themen mit der eigenen Lebenswelt. „Our photographs and life are all mixed together, so sometimes it does feel like the pictures.“
Dass ich solange damit gezögert habe, mir ans Herz gewachsene Volkslieder anspruchslos und entstaubt einzuspielen, hat wohl etwas mit der Intimität zu tun, welche diese Lieder für mich haben; und das eine Aufnahme bzw. Tonträger immer den Anspruch vortäuscht etwas Endgültiges darzustellen. Nun sind aber gerade Volkslieder Allgemeingut und überleben nur, wenn sie jedesmal wieder neu “erfunden“ werden. Wenn es überhaupt einen Anspruch geben kann, dann den der Anspruchslosigkeit. Es gibt dabei kein Richtig oder Falsch. Das Einzige, was man falsch machen kann, ist zu sagen : “so ist es richtig“. Diese Melodien sind so etwas wie die Ursubstanz meines musikalischen Ausdrucks, mein abc in Noten, eine der Quellen ohne die es den Strom nicht gäbe.“

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